– Großmutter Bernadette
Das traditionelle medizinische Wissen ist durch die Pflanzen entstanden und deswegen so alt wie die Pflanzen der Erde, sagen die Großmütter. Das traditionelle Wissen ist frei und wird durch Gebete erhalten und angeboten. Das Gebet ist das wichtigste Element in der traditionellen Medizin. Das Wissen um die traditionelle Medizin wurde durch unzählige Generationen weitergereicht und hat deswegen unzählige Überprüfungen und Anwendungen hinter sich. Die moderne Medizin gründet auf der traditionellen Medizin, da die Grundlage aller Medizin die Pflanzen sind.
In der traditionellen Medizin wird Krankheit als Kommunikation des Geistes eines Menschen verstanden, und deswegen versucht der Medizinmann, die Medizinfrau oder der Schamane, bei der Behandlung der Krankheit zu verstehen, was der Geist des Patienten braucht. Die traditionelle Medizin heilt das Herz, den Körper und den Geist, wohingegen sich die moderne Medizin auf die Erkrankungen des Körpers konzentriert. Die traditionelle Medizin richtet sich auf den ganzen Menschen: auf seine Umgebung, seine Beziehungen, seinen Geist, seinen Verstand und seinen Körper. Die traditionelle Medizin hat erkannt, dass auch die Krankheit eine Seele besitzt: Was braucht die Krankheit? Warum ist sie aufgetreten? Was versucht sie den Patienten zu lehren? Dies sind nur einige der Fragen, die traditionelle Heilerinnen und Heiler stellen.
In der Kultur der Mayas sind auch Philosophie, Ernährungsweise und der heilige Sex Teil der Medizin. Ihr Zweck ist es, dem Patienten seine innere Göttlichkeit zu vermitteln. Die Mayas glauben, dass in der Seele eines Menschen ein Liebesvakuum entsteht, wenn die sexuellen Energien aus dem Gleichgewicht geraten. Wegen dieser Lücke in der Seele entstehen Depressionen, die durch die verlorene Verbindung zur Heiligkeit des Sex verursacht werden. Die Heilung erfolgt durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts und durch die Rückkehr zum Wissen der Ahnen.
Traditionelle Heiler und Heilerinnen auf der ganzen Welt teilen dieselben Geheimnisse. Diese Geheimnisse stammen aus der Natur und aus dem Bewusstsein um die Zusammengehörigkeit allen Lebens und die gegenseitige Abhängigkeit von Körper, Geist und Seele. Die traditionelle Medizin ehrt die vier Elemente und die sieben vergangenen und kommenden Generationen, weil sie wissen, dass wir, wenn wir uns selbst heilen, auch die vergangenen und kommenden Generationen heilen.
In der traditionellen Medizin besteht das Ziel in der Heilung, während das Ziel der modernen Medizin die Kurierung ist, sagen die Großmütter. Kuriert man einen Patienten, will man die Krankheit vertreiben. Heilung hingegen soll den Patienten wieder „ganz“ machen, indem sie seine Harmonie und sein Wohlergehen wiederherstellt oder unterstützt. Eine Kurierung kann den Rest des Organismus destabilisieren. Antibiotika beispielsweise können zwar eine bestimmte Infektion kurieren, bringen meist aber auch die Verdauung durcheinander oder ziehen das Immunsystem in Mitleidenschaft, was wiederum eine Infektion in einem anderen Teil des Körpers oder permanente Müdigkeit auslösen kann. Medikamente geben dem Patienten keine Macht über seinen Heilungsprozess, und der Kampf gegen die Nebenwirkungen starker Medikamente wie in der Chemotherapie kann eine einsame und langwierige Angelegenheit sein.
Gebete und Zeremonien sind ein wichtiger Teil der traditionellen Heilungsmethoden u d helfen den Patienten dabei, eine starke Verbindung zu ihrer Familie oder anderen Quellen der Kraft sowie zu einer Macht, die größer ist als sie selbst, aufzubauen. Heilung erneuert die Verbindung des Patienten zur Natur und zu sich selbst und ist eine Quelle unendlicher Stärke.
– Großmutter Maria Alice.
Maria Alice will die moderne Medizin aber nicht verurteilen, weil diese sich mehr mit der Krankheit als mit der Gesundheit und dem Wohlergehen der Menschen beschäftigt. Es geht nicht um gut oder schlecht, denn beides ist Teil ein und desselben Prozesses. Es ist wichtig zu versuchen, beide Herangehensweisen zu verstehen.
Um die traditionelle Medizin zu erlernen, braucht man 10 Jahre oder mehr, weil es so viele unterschiedliche Pflanzenarten gibt. Auch die Kenntnis der Seele, der Gefühle und des Verstandes sind wichtig, weil die traditionelle Medizin drei Arten von Krankheiten kennt: natürliche, psychosomatische und spirituelle. Auch wenn sich die moderne Medizin mit den ersten beiden beschäftigt, hat sie bislang keinen Zugang zu den spirituellen Krankheiten und Wunden der Seele gefunden.
Wenn Menschen spirituelle Krankheiten haben, leiden sie oft sehr stark, obwohl der Arzt kein Problem erkennt und kein Röntgen- oder Ultraschallgerät etwas entdecken kann, sagt Großmutter Bernadette. Trotzdem ist der Mensch aber krank. Die traditionelle Medizin kann auch solche Fälle heilen. Jeder Bestandteil der Welt hat einen sogenannten „Meister“, eine heilige Pflanze, die spirituelle Krankheiten heilt. Peyote, Ayahuasca, Iboga und die heiligen Pilze der Traditionen der Großmütter sind Beispiele für diese mystischen Pflanzen, die verwendet werden, um spirituelle Krankheiten zu heilen. Damit die traditionelle Medizin die Seele eines Menschen heilen kann, muss sie in einer heiligen Zeremonie angewendet werden. Durch Gebete und Rituale wird so die Negativität vertrieben.
Viele Heilmittelaus Pflanzen sind allen Menschen bekannt, sodass man sich selbst heilen kann, ohne einen Arzt zu besuchen. Und andere Arten von Pflanzen oder Bäumen wirken nur gegen ganz besondere, häufig auch sehr schwere Krankheiten. Es gibt Pflanzenheilmittel gegen Aids, Alkoholismus, Krebs, Hautkrankheiten, Blutarmut und Diabetes, Krankheiten die schon seit Tausenden von Jahren von der traditionellen Medizin geheilt werden. Die moderne Medizin aber will nicht, dass sich die traditionellen Heiler mit der Heilung der wichtigsten Krankheiten beschäftigen, sagen die Großmütter.
Sie haben entdeckt, dass sie alle sehr ähnliche traditionelle Heilungsmethoden kennen. Reinigung ist beispielsweise in all ihren Traditionen von großer Bedeutung. Die Umgebung, in der geheilt wird, ist ebenfalls wichtig. In der traditionellen Medizin wird berücksichtigt, dass wir Aufmerksamkeit brauchen, wenn wir krank sind, und dass wir Hilfe und Berührung brauchen. In der traditionellen Medizin wird der Patient von Menschen umgeben und mit Mitgefühl behandelt, damit seine Moral nicht sinkt und er sich nicht isoliert fühlt.
Die Yupik-Heiler wissen auch, dass ein Gedanke die gesamte Dynamik einer Krankheit und ihrer Heilung verändern kann. Im Heilungsprozess müssen wir laut Großmutter Rita mit dem beginnen, was wir sind, mit der Ganzheitlichkeit unseres Seins. Unsere Krankheit wird häufig durch unsere persönliche Geschichte bedingt. Diese persönliche Geschichte wird aber nur dann wirklich nützlich, wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass wir unser Leben selbst erschaffen haben, und unsere Vergangenheit loslassen können.
– Großmutter Rita.
Der Weg zu spiritueller und emotionaler Gesundheit ist das Gleichgewicht, glaubt Flordemayo:
Flordemayo glaubt außerdem, dass unser Leben vorherbestimmt ist. Wir alle haben eine Zeit, einen Ort, und eine Mission. Wenn wir uns auf unseren Zweck einstellen, befinden wir uns automatisch im Gleichgewicht und laufen nicht mehr in mehrere Richtungen gleichzeitig. Schon, wenn es uns einmal am Tag gelingt, uns für eine halbe Sekunde derart zu fokussieren, befindet sich unser Leben eher im Gleichgewicht. „Das Leben ist ein Mysterium, und keiner von uns kennt alle Antworten. Aber wir können es versuchen.“
Grundlegend für jede Heilung ist für die Großmütter das Gebet.
– Lakota-Großmutter Rita
Den Großmüttern ist es sehr wichtig, eine Brücke zwischen der traditionellen und der modernen Medizin zu schlagen, was sie in Anbetracht der gewaltigen Unterschiede in den Philosophien und Herangehensweisen für eine sehr schwierige Aufgabe halten. Die Brücke zwischen der traditionellen und der modernen Medizin muss sich auf die Prinzipien der Gleichheit stützen und dem Wohl der Menschen gewidmet sein. Sie muss auch einen angemessenen Austausch der Ressourcen sicherstellen.
Sowohl die traditionelle als auch die moderne Medizin können viel voneinander lernen, sagen die Großmütter. In einem offenen Dialog wäre die erste Frage, ob beide Seiten ehrlich und von Herzen daran interessiert sind, etwas zur Gesundung der Menschheit beizutragen. Wenn dies nicht an erster Stelle steht, ist der Dialog beendet, da das wahre Motiv im Verborgenen bleibt, sagt Großmutter Maria Alice. Die Großmütter befürchten, dass sich die moderne Medizin diesem Dialog von einem erhobenen Standpunkt der Macht aus nähert und davon ausgeht, dass sie den einzig rechtmäßigen Weg geht. Macht wird ökonomisch, politisch und in Kriegen genutzt, um diese Einstellung zu wahren. Einige Regierungen verfolgen beispielsweise Menschen, die die heilige Medizin Santo Daime einnehmen. Menschen auf der ganzen Welt werden wegen dieses heiligen Getränks ins Gefängnis gesperrt. Die Anhänger der traditionellen Medizin aber, auch die, die Santo Daime einnehmen, glauben, dass Gesundheit Frieden und Gleichheit bedeutet.
Wenn wir uns auf einen Dialog zwischen traditioneller und moderner Medizin einlassen, müssen wir unsere Unterschiede begreifen. Die traditionelle Medizin betrachtet den Patienten als einen Menschen, dessen Gesundheit eine Herausforderung durchläuft. Der Patient muss seine Erde, sein Feuer oder sein Wasser, seine Luft oder seine Seele, seinen emotionalen Körper oder seine Wurzeln unterstützen. Dies ist eine völlig andere Weise, Krankheiten aufzufassen. Wenn die moderne Medizin die Ergebnisse über die Ursachen und Kurierung von Krankheiten teilen würde, könnte die traditionelle Medizin diese auf die gesamte Realität des Patienten anwenden. Beide Herangehensweisen könnten einander ergänzen, wenn sie einander respektieren würden, sagen die Großmütter.
Die Urvölker sind die Wächter des Waldes und der Medizin, weil die Natur sie dazu ernannt hat, sagen die Großmütter. Niemand sollte ihr Wissen stehlen und in kommerzielle Patente umwandeln, was meist die Zerstörung des Waldes und der Ausübung der traditionellen Medizin zur Folge hat und dafür sorgt, dass große Mengen Geld auf einige wenige Konten fließen. Derartige Ausbeutung ist eine soziale Krankheit, sagen sie.
Die Großmütter sagen, dass die Erforschung der Heilkräfte der traditionellen Pflanzen dem Volk gehört. Wir brauchen Gerechtigkeit, damit alle an den Ergebnissen dieser Forschung teilhaben können, ganz gleich ob in der modernen oder der traditionellen Medizin. Die materiellen Profite, die aus diesen Forschungen entstehen, müssen zurückgehen an die Quelle, an die Urvölker, damit diese weiterarbeiten und den Wald schützen können.
Die Großmütter wollen die Menschheit retten. Weil die Pflanzen vielen Menschen helfen, müssen sie für jeden, der sie braucht, zugänglich und bezahlbar sein. „Wir haben unser Wissen von unseren Ahnen geliehen, und wir müssen es wiederum weitergeben an unsere Kinder und die kommenden Generationen“, sagt Großmutter Bernadette.
– Großmutter Flordemayo.
Der Wunsch zu heilen muss von Herzen kommen. Geld ist kein guter Grund um zu heilen. Zuerst sollte man über die Behandlung der kranken Menschen nachdenken, und erst dann über die mögliche Finanzierung. Die Großmütter verurteilen es, Geld für wichtiger zu halten als die Linderung von Leiden. Dies ist aus Sicht der traditionellen Medizin, die Krankheiten verhindern will, eine Form des Missbrauchs.
Wenn man sich das Wissen über Heilkunde aneignet, ohne sich all die Jahre Zeit zu nehmen, um zu lernen, die Pflanzen zu verstehen, macht man schmutziges Geld, sagen die Großmütter. Die Heiler am Amazonas haben kein Interesse daran, ihre Heilmittel patentieren zu lassen.
– Großmutter Maria Alice.
Die traditionelle und die moderne Medizin brauchen einander, sagen die Großmütter, und um der Menschheit willen müssen die beiden Disziplinen zusammenarbeiten. Die Ausübenden der traditionellen Medizin müssen einen Weg finden, die Pflanzen in eine vermarktbare Form zu bringen, damit sie möglichst viele Menschen erreichen können. Dabei kann die moderne Medizin ihnen helfen. Die Großmütter wissen, dass es viele Wissenschaftler gibt, die ihre Arbeit ebenso lieben wie die traditionellen Heiler, und der Menschheit helfen wollen.
Einigen Ärzten, die eine Zusammenarbeit wünschen, werden die Hände durch das Gesetz gebunden. Wenn man sie dabei erwischt, wie sie einem Patienten traditionelle Heilungsmethoden empfehlen, können sie ihre Zulassung verlieren. Die moderne Medizin verlangsamt den Prozess der Zusammenarbeit, indem sie ihre eigenen Nachforschungen betreibt, anstatt sich auf Jahrtausende alte Erfahrungen zu stützen. Am Amazonas sind spirituelles Wissen und Praxis kostenlos, aber die heiligen Pflanzen und die dazugehörenden Gebete aus dieser Region, die Menschen auf der ganzen Welt heilen, sind in den meisten anderen Ländern verboten.